Flucht vor dem Lauschangriff

Flucht vor dem Lauschangriff

Dorothea Schmidt (Name geändert) ist verwirrt. Gerade eben war da noch dieser schrille Pfeifton, jetzt ist er weg. „Haben Sie‘s auch gehört?“, fragt sie. „Das machen die immer so: Wenn jemand anders dabei ist, hören sie auf.“ Monatelang hatte sich Dorothea Schmidt nicht blicken lassen, war abgetaucht. Jetzt ist sie wieder da, einfach so, als wäre nichts gewesen.

Sie steht in Palmas Fußgängerzone. Um den Kopf hat sie sich ein Geschirrtuch gebunden. Zu ihren Füßen steht ein Rucksack, da ist ihre Habe drin. Daneben ein Vogelkäfig. Zwei Kanarienvögel hüpfen über das Pflaster. Schmidt hat ihnen mit einer Nagelschere die Flügel gestutzt, damit sie nicht wegfliegen. „Wenn man Tiere bei sich hat, geben die Leute mehr.“

Die 56-jährige Deutsche lebt seit fast zehn Jahren auf der Straße, die meiste Zeit davon auf Mallorca, zwischendurch auch mal woanders, aber genau weiß das nur sie. Schmidt lebt davon, was ihr die Passanten geben. Sie kann strahlend lachen, hat einen festen Händedruck, blickt ihrem Gegenüber gerade in die Augen und sieht nicht aus, als hätte sie kein Zuhause. Wenn Schmidt redet, dann meist schnell, laut und ohne Unterbrechung.

Was sie zu berichten hat, das hat sie schon oft erzählt, immer und immer wieder. Nachfragen und Einwände wischt sie weg, oder sie redet einfach noch lauter. Dass die Leute sie anstarren, schert sie nicht. Ihre Geschichte dreht sich um totale Überwachung, geheime Experimente und einen langsamen, schleichenden Tod. „Die Sterne am Himmel sind vielleicht gar keine Sterne“, sagt Schmidt. „Hier fliegt ganz oft ein Polizeihubschrauber vorbei. Vielleicht, um ein Netz zu reparieren.“

„Es herrscht der totalitäte Lauschangriff“

Sie ist überzeugt, dass ihr jemand etwas ins Ohr gepflanzt hat. Vermutlich einen Mikrochip. Jedenfalls ein Ding, das sie allmählich umbringt. „Damit können die Gedanken von jedem Menschen erfasst werden“, sagt sie.„In Spanien herrscht der totalitäre Lauschangriff.“ Deshalb besitzt Schmidt weder ein Mobiltelefon noch ein Bankkonto. Da ihre Gedanken überwacht werden, will sie nicht mehr von Geheimnummern abhängig sein. Ihr letztes Handy hat sie fortgeworfen. Seitdem ruft sie nur noch aus Telefonierläden an. Aber auch das ist nicht sicher, auch dort sind die Leitungen angezapft: „Man merkt das daran, dass manchmal die eigene Stimme hallt.“ In Dorothea Schmidts Welt stecken alle unter einer Decke: Polizei, Zigeuner, Presse, Nasa, Justiz, ja, auch der Betreiber des Telefonierladens.

Am schlimmsten aber sind die Ärzte. Mit denen nämlich fing alles an, damals, vor Jahren. Wenn sie davon erzählt, wie ein Zahnarzt sie falsch behandelte und anschließend partout nicht die Verantwortung für die Schäden an ihrer Gesundheit übernehmen wollte, dann überschlägt sich ihre Stimme. Gesundheitliche Probleme, erfolglose Gerichtsprozesse, Verlust der Arbeit und der Wohnung, oder doch ein ganz anderes Ereignis – was sie letztendlich aus der Bahn geworfen hat, ist nicht herauszubekommen. Sie hat jetzt ein dringenderes Problem: die Welt zu überzeugen, dass ihre Geschichte wahr ist.

Zu dem Zweck füllt sie seitenweise Papier mit kleiner, krakeliger Schrift, das sie dann per Fax verschickt. Greenpeace, der Internationale Gerichtshof in Den Haag und vermutlich viele weitere Institutionen haben bereits Post von ihr bekommen. Eine Antwort hat Schmidt nicht erhalten. „Die hängen da alle mit drin“, sagt sie. Auch der Ohrenarzt, den sie konsultiert hat, hat nichts weiter getan, als ihr ein paar Pillen zu verschreiben. Einen Mikrochip will er nicht gefunden haben.

Nachts sucht sich Schmidt eine freie Ecke im Vorraum einer Bank, da wo die Geldautomaten stehen. Dort ist es sogar im Winter warm – meistens. Einmal sei über Nacht die Kühlung eingeschaltet worden, damit sie dort nicht mehr übernachte. Die Obdachlosenunterkunft aber kommt für sie nicht in Frage. Dort wird getrunken, gestritten und geklaut, sagt sie. „Damit will ich nichts zu tun haben.“ Auch nach Deutschland will sie nicht zurück. Das Leben unter freiem Himmel ist dort viel härter als in Palma. Kontakt zu ihrer Familie hat sie, wenn auch selten. „Die haben keinen Platz für mich. Was soll ich da?“

Eine Zeit lang kassierte Schmidt die spanische Sozialhilfe, etwas mehr als 400 Euro. Jemanden, der ihr eine Wohnung vermieten wollte, fand sie aber nicht. Eine Frau ließ sie ein paar Wochen kostenlos bei sich wohnen. Es endete im Streit. Der Besitzer eines Dönerladens in Palma lädt sie hin und wieder zu einer warmen Mahlzeit ein. Eine Bekannte lässt ihr etwas Geld zukommen. Und dann verschwindet Dorothea Schmidt wieder von der Bildfläche, einfach so, für Monate. Auf der Flucht vor dem Pfeifen im Ohr.

Erschienen im Mallorca Magazin.