
Ramón Llulls Wahrheitsmaschine
700 Jahre trennen den mallorquinischen Philosophen Ramon Llull (1232-1316) und den deutschen Erfinder Konrad Zuse (1910-1995). Dennoch haben beide mehr gemeinsam, als die zeitliche Distanz nahelegt. Ideengeschichtlich lässt sich ein Bogen schlagen von dem mittelalterlichen Gelehrten, der sich den Bau einer „Wahrheitsmaschine” vorgenommen hatte, bis zu dem neuzeitlichen Ingenieur, der am 12. Mai 1941 der Öffentlichkeit die „Z3” vorstellte, eine programmgesteuerte Rechenmaschine, die heute als erster Computer der Welt gilt.

„Zuse steht in einer Tradition, die bereits im 13. Jahrhundert mit Llull begonnen hat”, sagt Werner Künzel. Der Berliner Philosoph und Informatiker hat seit den 80er Jahren die Kulturgeschichte des Computers erforscht und bis zu Llull zurückverfolgt. War Zuses Apparat tonnenschwer und groß wie ein Kleiderschrank, wog Llulls 700 Jahre ältere Erfindung gerade einmal ein paar Gramm und passte locker in jeden Beutel.
Im umgekehrten Verhältnis zu Größe und Gewicht der beiden Apparate steht die Aufgabe, die die beiden Männer ihnen zudachten: Wollte Zuse recht bescheiden lediglich eine Rechenmaschine bauen, sollte Llulls Apparat nicht weniger als die Wahrheit liefern.
Dass dies seine Berufung sei, davon war Llull seit einem Erleuchtungserlebnis überzeugt, das er der Legende nach während einer Meditation auf dem Klosterberg Randa bei Algaida hatte. Dort erschien ihm der gekreuzigte Gottessohn höchstselbst.
Die letzten Mönche halten die Stellung
Wer sich auf Llulls Spuren heute auf den Berg begibt, der findet dort nicht nur die Höhle, in der Llull damals als Einsiedler gelebt haben soll, ein altes Kloster und den dazugehörigen Souvenirshop, er kann auch Bruder Francisco treffen, einen der letzten Mönche, die dort oben bis heute die Stellung halten.
„Seit Llull hier seine Erscheinung hatte, ging es ihm darum, Moslems und Juden zum Christentum zu bekehren – mittels Argumenten”, sagt der freundliche ältere Herr im dunklen Gewand. Wie viel einfacher wäre dieses Ansinnen in die Tat umzusetzen, gäbe es einen Apparat, der auf jede Frage immer die richtige Antwort geben könnte, so Llulls Idee. Also machte er sich daran, eine solche Maschine zu entwerfen.
In Dutzenden Schriften hielt er im Laufe von Jahrzehnten seine Gedanken fest, entwickelte und veränderte seine Methode und hinterließ so nebenbei auch die vermutlich erste Gebrauchsanleitung der Menschheitsgeschichte.

Wenn auch nicht gerade erfolgreich: Den meisten seiner Zeitgenossen konnte er seine „Kunst” („Ars”) nicht verständlich machen – wie auch späteren Generationen nicht. „Nein, verstanden habe ich nicht wirklich, wie dieser Apparat funktioniert”, räumt etwa Bruder Francisco freimütig ein. „Da müssen Sie schon mit Gelehrten sprechen.”
Zum Beispiel mit Antoni Bordoy, Professor für Philosophie an der Balearen-Universität, der sein Büro in dem nach Llull benannten Gebäude des Campus vor den Toren Palmas hat. „Llulls Vorhaben ist nur vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Gedankenwelt zu verstehen”, sagt er. „Niemand hätte im 13. Jahrhundert angezweifelt, dass es eine absolute Wahrheit gibt.” Zu ihr aber konnte man nur über den gelehrten Disput gelangen, mit Hilfe der Überzeugungskraft logischen Denkens und Argumentierens.
„Llull war es, der zum ersten Mal in der Geschichte diesen Vorgang durch eine Maschine zu ersetzen versucht hat”, sagt Bordoy. Der Apparat sollte ursprünglich aus Holz sein, kann aber auch aus Papier problemlos nachgebaut werden. Er besteht in seiner schlichtesten Variante aus mehreren Scheiben, auf denen Buchstaben notiert sind. Das Verschieben der Scheiben, für das exakte Regeln existieren, ergibt wechselnde Buchstabenfolgen.
Ein Algorithmus – wenn auch ein sehr einfacher
„Llull war der Erste, der sich getraut hat, Wörter durch Symbole zu ersetzen”, sagt Bordoy. So habe er eine Methode geschaffen, mit der sich Inhalte durch Zeichenfolgen darstellen ließen – eine Abstrahierung, die bis heute allen Computer-Programmiersprachen zugrunde liege. Im Falle von Llulls Wahrheitsmaschine steht jeder Buchstabe für einen bestimmten Begriff.
Das Ergebnis, das die Maschine ausspuckte, ließ sich also in vollständige Sätze übertragen – die Maschine lieferte Aussagen, die zumindest einem an mittelalterliche Denkmuster gewöhnten Zeitgenossen sinnvoll erscheinen mussten. Letztendlich sollte es so möglich sein, auf jede denkbare Frage eine korrekte Antwort zu erhalten. „Llull hat einen Algorithmus ersonnen, wenn auch einen sehr einfachen”, sagt Bordoy.
Unstrittig ist, dass Llull seiner Zeit weit voraus war. Seine Idee von der mechanischen Produktion der Wahrheit ist erst Jahrhunderte später wieder aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Seine Zeitgenossen brachten kaum Verständnis für ihn auf. Wie übrigens auch die Bevölkerung der muslimischen Länder, die er mit Hilfe seiner Erfin- dung zum Christentum bekehren wollte: Der Legende nach wurde Llull auf einer seiner Missionsreisen von einer aufgebrachten Menschenmenge zu Tode gesteinigt.
Erschienen im Mallorca Magazin.