Nach der Krise ist vor der Krise
Niemand sah die Krise kommen, da ist sich Carles Manera sicher. Der Historiker und Ökonom war von 2007 bis 2011 Wirtschafts- und Finanzminister der Balearen-Regierung und erlebte den Beginn der schwersten Rezession der jüngeren spanischen Geschichte hautnah mit. Erst der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 – vor genau zehn Jahren – „ließ alle Alarmglocken schrillen”, erinnert sich Manera, der heute Professor an der Wirtschaftsfakultät der Balearen-Universität ist.
Die wichtigste Folge der durch die Lehman-Pleite ausgelösten Bankenkrise war die fehlende Liquidität. Privathaushalten, Unternehmen, aber auch der öffentlichen Hand fiel es immer schwerer, sich über Kredite zu finanzieren. „Niemand vertraute niemandem mehr”, sagt Manera. Der Einbruch der Steuereinnahmen um rund eine Milliarde Euro im Jahr 2009 ließ selbst die größten Optimisten erkennen, dass die Lage auf den Balearen ebenso ernst war wie in ganz Spanien und Europa.
„Das Desaster wäre viel größer gewesen“
Steigende Arbeitslosigkeit, der Einbruch des Immobilienmarktes und die zunehmende Verunsicherung ließen die fest eingeplanten Einnahmen aus Mehrwertsteuer und Einkommensteuer dramatisch sinken. Der Balearen-Haushalt geriet in Schieflage. „Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die expansive Haushaltspolitik damals richtig war”, sagt Manera. Die balearische Linksregierung entschied sich gegen eine drastische Sparpolitik und für die Aufnahme neuer Schulden. „Das Desaster wäre viel größer gewesen, wenn wir nicht so gehandelt hätten.”
Selbst als die Regierung im Haushalt 2010 einen moderaten Sparkurs einschlug, galt die Maxime, vor allem das Bildungs- und das Gesundheitswesen nicht anzutasten. Die Kehrseite der Medaille: Es war kaum Geld da, um die laufenden Kosten zu decken. Zulieferer wurden erst mit monatelanger Verspätung bezahlt, was viele Unternehmen in den Ruin trieb. „Wir hatten die Wahl zwischen dem Schlechten und dem noch Schlechteren”, sagt Manera.
Die Haushaltspolitik auf den Balearen änderte sich substanziell erst, als 2011 die konservative PP auf den Inseln an die Macht kam. Im Bildungs- und Gesundheitswesen wurden massiv Stellen abgebaut. Nur durch wochenlange Proteste konnte die Schließung zweier Krankenhäuser verhindert werden.
„Die Basis ist ein Berg von Leichen“
Zeitgleich verfolgte auch die Zentralregierung in Madrid einen strikten Sparkurs und beschloss weitreichende Reformen des Arbeitsmarktes. Carles Manera hält das heute für einen Fehler. „Die wirtschaftliche Erholung steht nicht auf gesunden Füßen, wenn sie auf der Grundlage einer solchen Austeritätspolitik zustande kommt”, sagt er. „Die Basis ist ein Berg von Leichen.” Die Lage in Griechenland sei dafür das beste Beispiel.
Der von der EU und der deutschen Regierung eingeforderte Sparkurs habe nicht nur enorme soziale Probleme in den südeuropäischen Ländern verursacht, sondern auch die Spaltung der EU vorangetrieben. „Es herrschte die Auffassung vor, der Süden müsse für sein Missmanagement bestraft werden”, sagt Manera. Dabei sei die hohe Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise, sondern eine ihrer Folgen.
Seit 2014 belegen die makroökonomischen Daten das Ende der Krise in Spanien. Die Wirtschaft wächst wieder, die Arbeitslosigkeit sinkt, ebenso die Staatsverschuldung und das Haushaltsdefizit. Auf den Balearen entspannte sich die Lage sogar etwas früher als im Rest des Landes. „In dieser Krise haben sich die Regionen als besonders widerstandsfähig erwiesen, die vom Tourismus leben”, sagt Manera: Andalusien, die Kanaren, die Balearen. Die Nachfrage sinke in Ländern wie Großbritan- nien und Deutschland selbst in Krisenzeit nur unerheblich.
Die Folgen der Krise werden noch lange nachwirken
Überwunden aber ist die Rezession noch lange nicht: Die Folgen der Krise werden die Menschen in Spanien und auf den Balearen noch lange spüren, sagt Manera. Die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse durch den Abbau von Arbeitnehmerrechten, die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit, die weit verbreitete Armut, die Einschnitte bei Bildung und Gesundheit – all das werde noch lange nachwirken.
Dazu komme die enorme Staatsverschuldung, die kaum jemals abgebaut werden könne. Manera ist vehementer Verfechter eines Schuldenschnitts, um die Handlungsfähigkeit der südeuropäischen Staaten wieder herzustellen. Allzu optimistisch blickt der Wirtschaftswissenschaftler nicht in die Zukunft. Das liegt vor allem daran, dass die richtigen Schlüsse aus der Krise nicht gezogen wurden.
„Sind das schon die Vorboten der nächsten Krise?“
Vor allem der Bankensektor, der die Krise letztendlich durch seine immer riskanteren Geschäftspraktiken ausgelöst habe, hätte stärker zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Auch die fragwürdigen Gepflogenheit auf dem Hypothekenmarkt, die das Entstehen der Immobilienblase in Spanien begünstigten, hätten sich nicht grundlegend geändert.
Mit Sorge sieht Manera auch eine Entwicklung, die ihn an die Anfangsphase der Krise erinnert. „Die Steuereinnahmen sinken auch jetzt wieder”, sagt er: „Sind das schon die Vorboten der nächsten Krise?” Die Antwort lässt er offen.
Erschienen im Mallorca Magazin.