Zwischenstopp im Urlaubsparadies

Zwischenstopp im Urlaubsparadies

Es sind verstörende Bilder. „Wo ist mein Baby?“, ruft eine junge Frau immer wieder. „Ich habe mein Baby verloren.“ Ringsherum sind nichts als offene See und hohe Wellen zu erkennen, bis zum Horizont. Retter versuchen, die im Wasser treibenden Menschen an Bord zu hieven. Ein triefnasser Junge lehnt bereits im Schlauchboot. Dann kippt sein lebloser Körper vornüber.

Das Video entstand Mitte November bei einem Einsatz der Hilfsorganisation Open Arms im Mittelmeer. Tatsächlich gelang es den Rettern später, das sechs Monate alte Baby der verzweifelten Frau zu bergen und wiederzubeleben. „Ein paar Stunden später aber konnte sein kleiner Körper nicht mehr“, twitterte Open Arms. Sein Name ist Joseph.

Szenen wie diese spielen sich im Mittelmeer regelmäßig ab – auch wenn zuletzt vor allem die Kanaren im Fokus standen, nachdem dort seit Wochen tausende Immigranten festsitzen. Mallorca, das nur etwa 270 Kilometer von der algerischen Küste entfernt liegt, ist ebenfalls ein gefragtes Ziel für viele Bootsflüchtlinge. 2020 ist sogar ein Rekordjahr.

Bislang sind 1396 Personen in 108 Booten illegal auf die Balearen-Inseln gelangt. Die große Mehrheit ging auf Mallorca an Land (984 Personen), gefolgt von Ibiza (210) und Formentera (202). Schon 2019 war ein Rekordjahr gewesen, allerdings mit lediglich 507 Immigranten. Ein Grund für den enormen Anstieg dürfte die coronabedingte Schließung der Grenze zwischen den spanischen Exklaven Ceuta sowie Melilla und Marokko sein.

98 Prozent der Flüchtlinge sind Algerier

Laut der Vertretung der Zentralregierung auf den Balearen handelt es sich bei den Ankömmlingen zu 98 Prozent um Algerier, meist Männer zwischen 20 und 40 Jahren. Hin und wieder sei auch einmal eine Frau dabei, gelegentlich auch ein Minderjähriger. Marokkaner und Schwarzafrikaner seien die große Ausnahme an Bord der Boote, die die Balearen-Küste erreichen. Für die allermeisten Flüchtlinge ist jedoch nicht Mallorca das Ziel. Sie zieht es vor allem nach Frankreich, Belgien und Deutschland, heißt es.

Das Thema der illegalen Immigration ist in Spanien und auch auf Mallorca weitgehend von der rechtspopulistischen Partei Vox besetzt. „Wir erleben eine wahre Invasion“, sagte vergangene Woche Parteisprecher Jorge Buxadé hinsichtlichlich der Situation auf den Kanaren. Der Staat müsse sich mit allen Mitteln wehren. „Vor allem mit Hilfe der Streitkräfte.“ Er forderte, die Marine müsse eine Seeblockade rund um die Atlantik-Inseln errichten.

Ein Ansinnen, das der Befehlshaber der Armada, Admiral Teodoro López Calderón, unter Berufung auf das internationale Seerecht zurückwies. „Sollte die Besatzung irgendeines Schiffes der spanischen Marine auf ein Boot treffen, dessen Insassen in Lebensgefahr sind, so ist es sowohl aus legaler als auch aus moralischer Sicht ihre Pflicht zu helfen. Und das wird sie auch tun“, sagte López Calderón.

Rechtspopulisten machen Stimmung

Auch die mallorquinischen Vox-Vertreter meldeten sich in den vergangenen Tagen wiederholt zu Wort. Jorge Campos, Abgeordneter im Balearen-Parlament, kritisierte Anfang des Monats die balearische Ministerpräsidentin Francina Armengol scharf. Sie habe zwar nichts dagegen, die Balearen wegen des Corona-Virus vom Rest des Landes abzuschotten, gleichzeitig aber lasse sie die Außengrenzen geöffnet. „Mohammed darf also aus Algerien einfach so im Boot herüber kommen und seinen Cousin Mustafa besuchen, der illegal auf Mallorca lebt“, sagte Campos. „Wenn ich aber meinen Bruder in Valencia besuchen möchte, dann geht das nicht.“

Wenige Tage später ließ er sich dann am Hafen von Palma filmen, im Hintergrund die von den spanischen Streitkräften dort aufgestellten Zelte, in denen Immigranten untergebracht werden sollten. Campos sprach von „Invasion“ und einer „Lawine“, die auf die Balearen zurolle und kritisierte die Politik der Links-Regierungen in Madrid und Palma, die dafür verantwortlich seien. Es werde der Eindruck erweckt, dass hier „die Türen jedermann offenstehen“ und dass es hier „Sozialhilfe für Alle“ gebe.

„Es gibt viel Falschinformation“

Tatsächlich geistern seit Wochen Gerüchte, Halbwahrheiten und Lügengeschichten durchs Internet. Die Ankömmlinge würden in Hotels auf Kosten der Steuerzahler rundumversorgt und bekämen 400 Euro Taschengeld, heißt es da. Die Vertreterin der Zentralregierung auf den Balearen höchstpersönlich, die Sozialistin und Ex-Bürgermeisterin von Palma Aina Calvo, sah sich bemüßigt, einiges davon geradezurücken. „Es gibt viel Falschinformation“, sagte sie im Radio-Interview mit dem Regionalsender IB3. „Das schürt Ängste, und das können wir überhaupt nicht gebrauchen.“ Beim Umgang mit den Immigranten sei die Menschenwürde das entscheidende Kriterium.

Das übliche Prozedere auf den Balearen ist folgendes: In der Regel werden die ankommenden Boote vom Küstenradarsystem der Guardia Civil entdeckt. Die Polizei verständigt dann die Küstenwache, die die Besatzung meist vor der Südostküste Mallorcas aufnimmt und in den Hafen von Palma bringt. Es kommt allerdings auch immer wieder vor, dass Flüchtlinge die Inseln erreichen. Dann werden sie in der Regel früher oder später von der Polizei aufgegriffen.

Bargeld wird nicht verteilt

Nun kümmern sich zunächst einmal Freiwillige des Roten Kreuzes um die Flüchtlinge und vergewissern sich, ob diese gesundheitliche Hilfe benötigen. Außerdem versorgen sie die Ankömmlinge mit dem Nötigsten: trockener Kleidung, Nahrung und einigen Hygieneprodukten. Bargeld werde nicht verteilt, beteuert eine Sprecherin der Hilfsorganisation.

Da es sich bei der illegalen Einreise nach Spanien lediglich um eine Ordnungswidrigkeit und nicht um eine Straftat handelt, nimmt die Polizei lediglich die Daten der Immigranten auf, leitet ein Abschiebeverfahren ein und bringt sie dann in eines der Auffanglager auf dem Festland, CIE genannt (Centro de Internamiento de Extranjeros). In Spanien gibt es sieben davon. Sie befinden sich in Barcelona, Madrid, Valencia, Murcia, Algeciras, auf Teneriffa sowie Gran Canaria und bieten Platz für etwa 1000 Personen, teilt das spanische Innenministerium mit. Maximal 60 Tage lang kann eine Person dort festgehalten werden. Wenn sich die Abschiebung bis dahin nicht hat durchführen lassen, kommt sie auf freien Fuß.

Quarantäne im Hotel in Arenal

Wegen der Corona-Pandemie waren die Abläufe in den vergangenen Monaten allerdings nicht die üblichen. So wird bei allen Flüchtlingen derzeit ein PCR-Test vorgenommen. Fällt dieser positiv aus, muss die jeweilige Person für zehn Tage in Quarantäne – ebenso, wie die komplette Bootsbesatzung. Das mallorquinische Sozialamt IMAS übernimmt die Kosten für die Unterbringung und Verpflegung im Blue Sea Tower Arenal. Zwischen Mitte September und Mitte November fielen so 3397 Übernachtungen und Kosten von etwa 550.000 Euro an, meldete die Tageszeitung „Ultima Hora“ kürzlich. Allerdings sind in dem Hotel nicht nur Immigranten untergebracht, sondern auch Personen, die ihre Quarantäne an keinem anderen Ort verbringen können, wie etwa Obdachlose.

Erschwerend kam zuletzt auch noch dazu, dass in den vergangenen Monaten coronabedingt sämtliche Auffanglager auf dem Festland geschlossen waren. Auch Abschiebungen fanden nicht statt. Da die Polizei niemanden länger als 72 Stunden festhalten darf, solange kein Haftbefehl vorliegt, kamen die Flüchtlinge also spätestens nach Ablauf dieser Frist auf freien Fuß. Wegen der großen Zahl der Ankömmlinge auf Mallorca reichte auch der Platz in den Zellen der Nationalpolizei nicht aus. Daher wurde das Kreuzfahrtterminal am Hafen, das derzeit wegen der Pandemie ohnehin nicht genutzt wird, zur provisorischen Unterkunft umgebaut. Um die einzelnen Bootsbesatzungen vorneinander trennen zu können, errichtete außerdem das Militär Zelte auf dem Hafengelände.

Nichtregierungsorganisationen auf dem Festland sprangen ein und stellten den Flüchtlingen Unterkünfte zur Verfügungen. Auf Mallorca zahlte ihnen das Rote Kreuz die Fährtickets. Mittlerweile sind die Auffanglager wieder geöffnet und auch Abschiebungen gebe es bereits seit mehreren Wochen wieder, teilt das Innenministerium mit. Der übliche Rhythmus werde vermutlich demnächst erreicht.

12.912 Abschiebungen in drei Jahren

In den vergangenen drei Jahren hat der spanische Staat 12.912 Personen abgeschoben. Das geht aus einem internen Polizeibericht hervor, über den die Nachrichtenagentur Efe jetzt berichtete. Insgesamt seien in dem Zeitraum 80.865 Abschiebeverfahren eingeleitet worden, in 17.861 Fällen wurde die Abschiebung beschlossen. Die große Diskrepanz zwischen eingeleiteten Verfahren und tatsächlichen Abschiebungen sei auch auf die vielen Fälle zurückzuführen, in denen es sich lediglich um Ausländer handele, die in Spanien leben und mit der Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung in Verzug geraten waren, hieß es. Die meisten Abschiebungen gab es im fraglichen Zeitraum nach Marokko (5178) gefolgt von Kolumbien (1312).

„Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Wer illegal einreist, wird abgeschoben“, sagte Aina Calvo während ihres Radio-Auftritts, den sie dann auch noch für ein leidenschaftliches Plädoyer nutzte. Die Argumentation Rechtsextremer halte sie für „ekelerregend“. „Wir alle hatten das Glück, in einem Land zur Welt zu kommen, in dem die Grundrechte garantiert sind, in dem wir Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitswesen haben. Das gibt uns aber nicht das Recht, andere davon abzuhalten, die das auch wollen.“ Bei den Immigranten handele es sich vorrangig um Leute, die eine Perspektive für die Zukunft suchen. Migration sei ein Menschenrecht, auch wenn sie reguliert sein und geordnet verlaufen müsse. „Wie sollen wir einem jungen Afrikaner sagen: Warte du mal 30 Jahre ab, bis dein Land dir auch die Bedingungen bieten kann, die du dir für dein Leben erhoffst?“

Erschienen im Mallorca Magazin.