„Sie kennen keine Angst”

„Sie kennen keine Angst”

Nicht gerade zimperlich gingen Eidechsen-Forscher lange Zeit vor, wenn sie einzelne Exemplare markieren wollten, um sie später wiedererkennen zu können: Sie schnitten ihnen kurzerhand einen oder mehrere Zehen ab. „Die Idee gefiel mir nicht”, sagt Dr. Giacomo Tavecchia, Biodiversitätsforscher am Institut Mediterrani d’Estudis Avançats (Imedea) in Esporles.

Dr. Giacomo Tavecchia auf der Terrasse des Imedea in Esporles. Foto: jm

Zwar komme es auch in der Natur recht häufig vor, dass Eidechsen etwa bei Kämpfen mit Artgenossen Zehen einbüßen. „Dennoch ist und bleibt es eine Verstümmelung”, sagt er. Außerdem habe diese Form der Kennzeichnung den Nachteil, dass man nur eine recht geringe Zahl von Tieren unterscheidbar macht. Denn bei fünf Zehen sind die Kombinationsmöglichkeiten stark begrenzt.

Also machte sich Tavecchia auf die Suche nach einer Alternative. Dabei kam ihm zugute, dass sich Eidechsen zwar regelmäßig häuten – je nach Nahrungsangebot und Wachstum –, die Anordnung der Schuppen sich dabei aber nicht ändert. Zunächst führten die Wissenschaftler also eine Studie durch, um diese Annahme zu überprüfen.

„Wie ein Fingerabdruck“

Sie fingen Eidechsen und fotografierten ihre Brustpartie, deren Schuppenbesatz als besonders charakteristisch für jedes einzelne Individuum gilt. Gleichzeitig markierten sie jedes Tier mit einer Art Elektroskalpell. Anschließend ließ Tavecchia eine Software entwickeln, die jedes der so entstandenen Eidechsen-Fotos automatisch mit der Bilddatenbank abgleicht. Dazu werden am Rechner per Mausklick die Umrisse jeder einzelnen Schuppe eines bestimmten Bildausschnittes markiert. „Das Muster ist wie ein Fingerabdruck”, sagt Tavecchia. Einzigartig und unverwechselbar.

Die Anordnung der Schuppen ist bei jeder Eidechse verschieden, wie diese sechs Aufnahmen der selben Brustpartie von sechs Tieren zeigen.
Die Anordnung der Schuppen ist bei jeder Eidechse verschieden, wie diese sechs Aufnahmen der selben Brustpartie von sechs Tieren zeigen. Foto: Giacomo Tavecchia

Bereits seit 2009 ziehen er und seine Kollegen nun also zweimal im Jahr los, um auf den Inseln vor Mallorcas Küste möglichst viele der dort lebenden Eidechsen einzufangen und zu fotografieren. „Auf Dragonera ist es natürlich unmöglich, alle Tiere zu erwischen”, sagt Tavecchia. „Deshalb beschränken wir uns auf den größeren Inseln auf bestimmte Bereiche, um möglichst die immer selben Tiere einzufangen.” Mehrere Tausend Aufnahmen umfasst die Bilddatenbank bereits.

Älter als gedacht

Das Ziel der Forscher ist, anhand einzelner Tiere herauszufinden, wie sich die jeweilige Eidechsen-Population entwickelt. Es geht dabei aber nicht nur um die schiere Anzahl der Tiere, sondern auch um das Verhalten bei unterschiedlichen klimatischen Bedingungen. Wie sterben sie? Wann? Welche Überlebensstrategien entwickeln sie in den verschiedenen Lebensräumen?

Die bislang größte Überraschung: Tavecchia sind schon Eidechsen untergekommen, die zu Beginn des Projektes bereits erwachsen waren und noch immer leben – mithin etwa 13 Jahre alt sein dürften. „Das ist spektakulär”, sagt er: „Ein Tier, das gerade einmal zehn Zentimeter groß ist lebt 13 Jahre lang!” Es galt zwar schon zuvor als sicher, dass Eidechsen ein solches Alter erreichen können: „Einen eindeutigen Beweis zu haben ist aber schon etwas Besonderes.”

Die balearischen Eidechsen weisen eine große morfologische Variabilität auf, das heißt, es gibt sie in den unterschiedlichsten Ausformungen. Die Größe der Tiere variiert zum Teil stark – abhängig in erster Linie vom Nahrungsangebot –, ebenso die Farbgestaltung ihrer Schuppen, die von schillerndem Grün über strahlendes Blau bis hin zu tiefem Schwarz reicht.

Insel-Eidechsen lassen es ruhiger angehen

Außerdem haben die Forscher herausgefunden, dass Eidechsen auf kleinen Inseln eine besondere Überlebensstrategie verfolgen: Sie lassen es ruhiger angehen. Es gibt dort in der Regel keine Fressfeinde, kaum Konkurrenz durch andere Tierarten, gleichzeitig aber auch ein geringeres Nahrungsangebot. Die Folge: Die Tiere wachsen langsamer, pflanzen sich weniger fort und werden älter als ihre Artgenossen auf dem Festland. „All das kann man nur erforschen, wenn man die einzelnen Individuen zweifelsfrei verfolgen kann”, sagt Tavecchia.

Dass die balearischen Eidechsen auf den meisten Inseln keine natürlichen Feinde haben, bewirkt auch eine weitere Besonderheit: ihre Zutraulichkeit. „Sie kennen keine Angst”, sagt Tavecchia. „Das geringe Nahrungsangebot auf den Inseln macht die Neugierde zur Notwendigkeit.” Selbst von der Fähigkeit, in bedrohlichen Situationen einen Teil ihres Schwanzes abzuwerfen, der dann später nachwächst, machen diese Tiere kaum noch Gebrauch.

Wichtige Rolle bei der Bestäubung

Außerdem sind sie wegen des geringen Nahrungsangebotes geradezu Allesfresser geworden. Von Früchten über Aas, Insekten und angespülte Quallen bis hin zu Pflanzen ernähren sich die balearischen Eidechsen von so ziemlich allem, was ihnen unterkommt. Sogar Blütennektar, was dazu führt, dass die Tiere bei der Bestäubung bestimmter Pflanzenarten eine wichtige Rolle spielen.

Im Falle des Küstenbusches Daphne rodriguezii wiederum sorgen sie an manchen Stellen für dessen Erhalt: Sie fressen dessen Früchte, scheiden später die Samen wieder aus und sorgen so für die Ausbreitung der vom Aussterben bedrohten Pflanze. Tavecchia hofft, dass seine Forschung zur Bewahrung der balearischen Eidechsen-Arten beiträgt. „Wenn du sie erhalten möchtest, musst du sie verstehen”, sagt er.

Erschienen im Mallorca Magazin.