„Weniger bekannt, als ferne Welttheile“

„Weniger bekannt, als ferne Welttheile“

Zwei Freunde unternehmen eine Reise nach Mallorca – heute nichts Besonderes, im 19. Jahrhundert noch die absolute Ausnahme: Als sich die beiden Heidelberger Universitätsprofessoren Hermann Alexander Pagenstecher und Robert Wilhelm Bunsen am 24. März 1865 auf den Weg machen, erwartet sie eine einwöchige, strapaziöse Reise ins Ungewisse. Die beiden Männer gehören zu den allerersten Deutschen überhaupt, die die Balearen-Insel besuchen.

„Cyklopenmauer bei Artà“, lautet diese Zeichnung aus Pagenstechers Buch.

Der Zweck der Reise ist jedoch nicht etwa, unter südlicher Sonne am Strand zu liegen, wie es heutige Mallorca-Urlauber zu tun pflegen. Das Anliegen des damals 40 Jahre alten Zoologen Pagenstecher ist es, ganz seinem wissenschaftlichen Interesse folgend, Mallorcas Tierwelt zu erforschen. Bunsen, der Chemiker (nach dem der Bunsenbrenner benannt ist), begleitet seinen Freund.

Die Entscheidung zu der Mallorca-Reise fällt kurzfristig, sie ist „dem Augenblicke entsprungen“, wie Pagenstecher in seinem Reisebericht anmerkt, der 1867 unter dem Titel „Die Insel Mallorka. Reiseskizze“ erscheint – einer der ersten ausführlichen Texte über Mallorca in deutscher Sprache. Die Begründung für die Wahl des Reiseziels mutet aus heutiger Sicht, da die Insel Jahr für Jahr Millionen Urlauber anlockt, kurios an: „Jenes Inselland scheint weniger bekannt zu sein als ferne Welttheile, und seine Beschaffenheit bietet des Schönen und Wissenswerthen zu viel, als dass man nicht mithelfen sollte, es solcher Vergessenheit zu entziehen.“ Der Plan, Mallorca zu sehen, „gefiel uns um so mehr, weil er von den viel betretenen Pfaden der Touristen abwich“, schreibt Pagenstecher.

Per Dampfschiff nach Alcúdia

Die beiden Kollegen reisen also „mit dem Mittagsschnellzuge“ von Heidelberg nach Basel und dann ebenfalls mit der Eisenbahn weiter nach Lyon, Montpellier und Perpignan, wo sie in eine Postkutsche nach Girona umsteigen. Von dort geht es dann erneut mit dem Zug nach Barcelona. Per Dampfschiff gelangen die Männer schließlich Ende März nach Alcúdia im Norden Mallorcas.

„Man hätte sich an eine ferne indianische Küste, an der nie Europäer landeten, versetzt glauben können“, notiert Pagenstecher angesichts der offenbar noch völlig unberührten Landschaft. Während ihres Inselaufentha

Diese Zeichnung zeigt die Schlucht „Gorg Blau“.

ltes reisen die Männer zunächst für einige Tage nach Palma und unternehmen dann eine mehrtägige Rundreise. Unterwegs sind sie dabei mit Kutschen, Karren, Maultieren, Eseln – und zu Fuß. Mallorca ist zum Zeitpunkt der Reise noch ganz und gar landwirtschaftlich geprägt und nicht darauf vorbereitet, anspruchsvolle Fernreisende aufzunehmen. Bis findige Mallorquiner versuchen, ihre Insel als touristisches Reiseziel zu etablieren, vergehen noch einige Jahrzehnte.

Entsprechend schwierig gestaltet sich die Suche nach einer geeigneten Unterkunft. Selbst in Palma scheint es zu jener Zeit keinen einzigen Gasthof zu geben, der den Ansprüchen der Reisenden genügt. Die „Fonda de los vapores“, in der die beiden schließlich absteigen, erfüllt ihre Erwartungen jedenfalls nicht: „Man räumte uns rasch zwei Zimmer von Gepäck und Soldatenkleidern, aber der Schmutz wurde nur um so sichtbarer.“ Auch über das Essen, das man ihnen serviert, kann Pagenstecher nicht begeistern. „Man gab uns in einem fast lichtlosen Raume neben ein paar Hafenarbeitern einige Speisen, die an sich nicht schlecht, aber durch die Zubereitung fast ungeniessbar gemacht waren.“

Flamingos, Mönchsrobben, Delfine

Da Pagenstecher vor allem Mallorcas Tierwelt interessiert, zieht es ihn in Palma auf den Markt. Dort gibt es neben erlegten Flamingos auch Mönchsrobben, Riesenschildkröten – und Delfine. Kurzerhand kauft Pagenstecher einen solchen, wenn auch nicht, um ihn zu verspeisen: „Es sammelte sich eine große Menge Menschen um uns, zu sehn, was nun würde, da Fischer und Marktweiber sich nicht von dem Gedanken losmachen können, am Ende werde man das Zeug doch wohl essen.“ Pagenstecher aber will den Delfin ausstopfen. Er selbst häutet das Tier noch in der Markthalle: „Man band mir eine grosse blaue Schürze um, einer der umstehenden Männer trocknete mir sogar den auf der Stirne perlenden Schweiß mit durchduftetem Tuche ab.“ Dann präpariert er die Haut des Tieres und nimmt sie später mit in die Heimat – wie auch einen sechs Fuß breiten Rochen und diverse andere Fundstücke.

Bei einem ihrer Streifzüge ins Umland Palmas fangen die beiden Männer eine Natter, Skorpione sowie Tausendfüßler, die sie in mitgebrachte Sammelgläser verfrachten. Zurück in Palma zeigen sie ihre Fundstücke vor: „Keiner der Herren wollte glauben, dass es Skorpione und Schlangen auf der Insel gebe, bis ich meine Beute vorzeigte.“ Pagenstecher und Bunsen verkehren während ihres Aufenthaltes fast ausschließlich mit Angehörigen der mallorquinischen Oberschicht. Da sie kaum Spanisch und Mallorquín sprechen, sind sie auf Dolmetscher angewiesen, wenn ihr Gegenüber nicht Englisch, Französisch, Italienisch, Deutsch oder Latein spricht.

Landbewohner in Ziegenfellen

Die aus heutiger Sicht kurioseste Szene spielt sich in der Höhle von Artà ab. Diese besichtigen Pagenstecher und Bunsen in Begleitung einiger einheimischer Führer. Der Anblick der unterirdischen Gewölbe beeindruckt die Gäste sehr: „Ich hatte etwas Ähnliches nie gesehen“, schreibt Pagenstecher. Offenbar entwickelt sich ein Gespräch mit einem der Führer: „Einer von ihnen sagte, die Höhle sei schon über hunderttausend Jahre alt. Als man ihm erwiderte, das sei doch nicht glaublich, da die Welt erst seit sechstausend Jahren geschaffen, liess er sich nicht beirren, denn die Höhle sei viel älter als die Welt.“

Eine besondere Erwähnung wert sind Pagenstecher auch die mit Ziegenfellen bekleideten Landbewohner („ein lächerlicher Anblick“, notiert er), auf der Straße spielende Kinder, die zu seiner Überraschung nicht betteln und „auch sonst nicht lästig“ sind, sowie die Tatsache, dass alle Briefe, die er abschickt, auch tatsächlich in der Heimat ankommen.

„Gefällige Gastlichkeit“

Pagenstecher würdigt zuletzt auch die Gastfreundschaft der Mallorquiner: „Es wird wohl keine Nation der Welt den Spaniern gleichkommen in der Gefälligkeit und der Hingebung, mit welcher sie den Fremden zu begegnen wissen.“ Denn: „Die gefällige Gastlichkeit ist noch nicht durch den Strom der Reisenden zur Unmöglichkeit geworden.“ Alles in allem scheint Pagenstecher den Inselaufenthalt genossen zu haben. Er soll noch zwei weitere Male nach Mallorca gereist sein. „Es war wirklich hart, dass wir fort mussten“, schreibt er am Ende seines Berichtes. Am 16. April verlassen die beiden Männer an Bord eines Dampfschiffes die Insel in Richtung Valencia und zurück nach Heidelberg.

Erschienen am 18. August 2018 in der Rhein Neckar Zeitung.