Die Suche nach dem Urmeter

Die Suche nach dem Urmeter

An klaren Tagen kann man vom Gipfel der Mola de s’Esclop aus Ibiza sehen. Dann zeichnet sich die Nachbarinsel in dunklen Umrissen vom Horizont ab. Die gute Weitsicht ist der Grund, weshalb auf dem 928 Meter hohen, felsigkargen Berg ganz im Süden des Tramuntagebirges eine Ruine steht. Kaum 20 Quadratmeter war die aus groben Steinen gemauerte Hütte einst groß, von deren Dach nichts mehr übrig ist. Auch die Wände sind großteils eingestürzt. Auf einer Plakette ist zu lesen: „Observatorium von François Arago. Letzter Eckpunkt des 17. Dreiecks. Mai 1808.“ Der Hintergrund: Vor etwas mehr als 200 Jahren war Mallorca Schauplatz einer der bis dahin größten wissenschaftlichen Leistungen – der Bestimmung des Urmeters.

Die Hütte von François Arago auf der Mola de s’Esclop. Foto: jm

Wer damals wissen wollte, wie groß die Entfernung zwischen zwei Orten auf der Insel war, der griff auf den Destre zurück, das damals gängige Längenmaß auf Mallorca. Ein Destre entsprach 21 und dreiviertel Spannen – beziehungsweise der doppelten Spannweite des Erobererkönigs Jaume I. 400 Destres im Quadrat wiederum ergaben eine Cuarterada, das auf der Insel übliche Flächenmaß. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass diese Einheiten nicht selten zu Meinungsverschiedenheiten führten. Welche Hände sollte man zum Maßnehmen benutzen, große oder kleine? Und wer kann schon mit Exaktheit sagen, wie lang die königlichen Arme einst waren?

Fuß, Elle, Finger, Klafter

Die Insel ist damit aber keine Ausnahme. Bevor man sich auf den Meter als gemeinsames Längenmaß geeinigt hatte, nahm man auch andernorts beim Messen üblicherweise Körperteile zu Hilfe: Fuß, Elle, Finger, Klafter. Wenig präzise Maßeinheiten wie diese hat es in der Geschichte viele gegeben. Lange Zeit ist dies der Ursprung von Verwirrung, Streit und Betrug.

Versuche, ein präzises Längenmaß zu schaffen, hatte es deshalb bereits in vorangegangenen Jahrhunderten gegeben. Aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts sind die Messemthoden und die dazu notwendigen Apparate so ausgereift, dass tatsächlich ein ausreichend exaktes Vorgehen möglich ist. Dazu kommt, dass die Bemühungen um eine Vereinheitlichung und Objektivierung der Maßeinheiten im Sinne der Aufklärung im Rahmen der französischen Revolution einen entscheidenden Schub erfahren.

François Arago.

„Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände, die neuen Ideen, die die Französische Revolution mit sich brachte, sowie das Chaos, das rund um die Maßeinheiten herrschte und jegliche Aktivität von Verwaltung, Wissenschaft und Handel erschwerte, beschleunigten den Prozess“, schreibt die Autorin Elena Ortega in ihrem Buch „François Arago y Mallorca“, in dem sie die Erlebnisse des Franzosen auf der Insel detailliert beschreibt. Bis dieser zum Protagonisten der Geschichte wird, dauert es allerdings noch eine Weile.

Der Meter als Grundlage aller anderen Maßeinheiten

Im Jahr 1791 beschließt die verfassungsgebende Versammlung in Paris die Einführung des metrischen Systems, wobei die Längeneinheit, der Meter, im Dezimalsystem die Grundlage für die anderen Maßeinheiten bilden soll. Man einigt sich darauf, dass ein Meter der zehnmillionste Teil des Quadranten eines Meridians sein solle, sprich: der Strecke vom Pol zum Äquator. Dadurch würde die Längeneinheit für alle Zukunft auf einem objektiven, überprüfbaren Kriterium beruhen.

Mit den entsprechenden Arbeiten, dem bis dahin größten Vermessungsprojekt der Geschichte, wird federführend der französische Astronom Pierre Méchain betraut. Das Ziel ist jedoch nicht die Vermessung eines kompletten Meridians – das gilt als unmögliches Unterfangen –, sondern lediglich eines ausreichend großen Abschnittes. Das Ergebnis würde sich dann mit genügender Präzision hochrechnen lassen.

Die Wahl fällt auf den Meridian von Paris, damals noch der Nullmeridian, und außerdem bereits zu einem großen Teil erforscht. Man beschränkt sich zunächst auf die etwas mehr als 1000 Kilometer lange Strecke zwischen den beiden Küstenstädten Dünkirchen im Norden Frankreichs und Barcelona, obwohl schon frühzeitig auch die Option im Gespräch ist, die Messungen bis nach Mallorca fortzuführen. Auf diese Weise nämlich läge die Hälfte der Strecke recht exakt auf dem 45. Breitengrad und damit auf halbem Weg zwischen Pol und Äquator, was die anschließenden Berechnungen vereinfachen würde. Der Paris-Meridian verläuft nur wenige Kilometer von der Westküste Mallorcas entfernt.

Das Signal ist bis nach Barcelona zu sehen

Im Dezember 1792 setzt einer der Helfer Méchains auf die Insel über, um auf dem höchsten Gipfel eine Leuchtvorrichtung zu installieren. Tatsächlich ist das Signal des Scheinwerfers, den er auf dem Puig Major anbringt, von Barcelonas Stadtberg Montjuïc aus mit dem Teleskop zu erkennen, nicht aber mit dem Winkelmessegrät. Damit scheitert der erste Versuch, die Balearen in das Vermessungsvorhaben einzubeziehen.

Aufgrund der immer wieder aufflammenden Revolutionswirren in Frankreich und dem angespannten französisch-spanischen Verhältnis gestaltet sich die Arbeit Méchains und seines Kollegen Jean-Baptiste Delambre schwierig und dauert deutlich länger, als ursprünglich gedacht. Dazu kommt, dass die Wissenschaftler mit großem Gepäck unterwegs sind: die Gerätschaften, die sie für ihre Messungen brauchen, sind nur unter großem Aufwand zu transportieren und müssen immer wieder auf Kirchtürme und Berggipfel befördert werden.

Über mehrere Jahre ziehen sich die Arbeiten hin, bis Méchain schließlich im August 1798 seine Ergebnisse in Paris präsentieren kann. Sechs weitere Monate dauert es nun, schreibt der Wissenschaftshistoriker Prof. Antonio Ten, bis die Länge des zehnmillionsten Teils des Quadranten des Meridians von Paris – also der Meter – bestimmt ist. Darauf basierend wird auch der Kubikdezimeter berechnet (der Liter), sowie das Gewicht eines Kubikdezimeters destillierten Wassers (das Kilogramm).

Der Urmeter liegt heute im Archiv in Paris

Nachdem bereits im Jahr 1793 ein provisorischer Urmeter angefertigt worden war, entsteht nun also sechs Jahre später die zweite Version, die auf Méchains Messungen beruht. Das aus Platin gefertigte Metermaß befindet sich heute im Archiv des Internationalen Büros für Maß und Gewicht in Sèvres bei Paris. Damit aber ist das Projekt noch nicht beendet. Aus mallorquinischer Sicht geht es sogar jetzt erst so richtig los.

Im Frühjahr 1803 macht sich Méchain erneut auf, um die Messungen bis auf die balearischen Inseln auszudehnen, die Genauigkeit der gewonnenen Daten zu überprüfen und etwaige Ungenauigkeiten zu korrigieren. Da sich die direkte Verbindung nach Mallorca als unmöglich erwiesen hat, geht es nun darum, einen Ort auf dem Festland ausfindig zu machen, von dem aus Ibiza gut zu sehen ist und der als Ausgangspunkt für die Messungen dienen kann. Bei dem Versuch fängt sich Méchain jedoch an der Mittlemeerküste von Valencia eine Malariainfektion ein, an der er am 20. September 1804 stirbt.

Zwei Jahre dauert es bis zum nächsten Versuch. Im September 1806 machen sich die beiden Astronomen Jean Baptiste Biot und François Arago auf den Weg, das Werk zu vollenden. Als erstes stellen die beiden Männer die Verbindung zwischen dem Festland und Ibiza her. Während Biot auf die Pitiuseninsel übersetzt und dort auf dem knapp 400 Meter hohen Gipfel des Camp Vell eine Signalanlage installiert, harrt Arago auf dem Festland aus.

Monatelang auf 20 Quadratmetern

„Eine ungenaue Aufstellung der Brennspiegel auf Ibiza veranlasste außerordentliche Schwierigkeiten bei den Beobachtungen auf dem Festlande“, schreibt Arago später in seinen Erinnerungen. „Das Licht des Signals war sehr selten sichtbar.“ Vom Desierto de las Palmas aus blickt er Nacht für Nacht in die Ferne, ohne irgendetwas zu entdecken. Sechs Monate lang. „Leicht wird man begreifen, wie peinigend es einem thätigen, jungen Astronomen sein musste, auf einen hohen Berggipfel beschränkt zu sein, der rund herum einen Raum von etwa 20 Quadratmetern bot.“ Gerade einmal 22 Jahre alt ist Arago damals.

Nachdem es endlich gelungen ist, die Strecke über das Meer zu überbrücken, setzt er nach Ibiza über. Dort und auf der Nachbarinsel Formentera verbringt er ebenfalls mehrere Monate mit verschiedenen Messungen, bevor er dann schließlich im Frühjahr 1808 nach Mallorca gelangt. Er wählt den Gipfel der Mola de s’Esclop als den letzten noch fehlenden Punkt des 17. Dreiecks der Expedition.

Der Zeitpunkt allerdings ist ziemlich ungünstig: Spanien ist seit einiger Zeit von französischen Truppen besetzt, in der Bevölkerung regt sich Unmut, der sich in der Folge immer wieder in Aufständen entlädt. Es kommt schließlich zu den Napoleonischen Kriegen auf der Iberischen Halbinsel. Die Stimmung im Land ist aufgewühlt, auch auf Mallorca. Kein Wunder, dass selbst gegenüber zivilen Franzosen wie Arago Misstrauen besteht. „Im Volke entstand das Gerücht, ich hätte mich an diesem Punkte aufgestellt, um die Landung der französischen Truppen zu unterstützen“, schreibt er. Er sei ein Spion, der mit seinen Gerätschaften den napoleonischen Truppen Zeichen gebe, so die verbreitete Annahme.

Verkleidet gelingt Arago die Flucht

Als am 27. Mai 1808 in Palma ein Aufstand ausbricht, wird es auch für Arago brenzlich. „Nun erinnerte man sich des Franzosen, der auf der Mola de s’Esclop seinen Sitz aufgeschlagen hatte, und das Volk vereinigte sich, ihn zu fangen“, schreibt Arago, der offenbar um sein Leben fürchtet. Bekleidet mit typisch mallorquinischer Tracht verlässt er den Berggipfel in Richtung Palma. Unterwegs begegnet er einer Gruppe Männer, die sich aufgemacht hatten, ihn festzunehmen.

Nun kommt ihm zugute, dass er aus dem südfranzösischen Estagel stammt, wo man Okzitanisch spricht – was dem Katalanischen sehr ähnelt. Es fällt Arago also nicht schwer, mit den Inselbewohnern in deren Sprache zu kommunizieren. „Da ich vollkommen Mallorcanisch sprach, wurde ich nicht erkannt, und ermunterte die Leute, ihren Weg fortzusetzen, während ich mich nach Palma begab.“

STICHWORT: Triangulation

Bei ihren Vermessungsarbeiten bedienen sich Pierre Méchain und François Arago des klassischen Landmessverfahrens der Triangulation. Dabei wird die zu vermessende Fläche in Dreiecke aufgeteilt. Sind zwei Winkel und die Länge einer der drei Seiten des Dreiecks bekannt, können die fehlenden Daten mit Hilfe trigonometrischer Formeln errechnet werden. Um das erste Dreieck berechnen zu können, musste eine der Seiten tatsächlich vor Ort mit dem Maßband ausgemessen werden. In diesem Fall wurde eine zwölfeinhalb Kilometer lange Strecke zwischen den Ortschaften Melun und Lieusaint vermessen, was allein 45 Tage in Anspruch nahm. Diese Strecke diente als Basis für alle weiteren Messungen. Nach und nach spannten die Wissenschaftler ein Netz aus Dutzenden Dreiecken am Paris-Meridian entlang. Mit Hilfe von Licht- und Feuersignalen wurde die Sichtbarkeit der Messpunkte verbessert. Immer wieder weckte dies das Misstrauen der Landbewohner, denen nur schwerlich zu vermitteln war, was dort genau vonstattenging.

„Nur ein kleiner Dolchstich …“

Aber auch dort ist er noch nicht in Sicherheit. An Bord seines Schiffes weigert sich der Kapitän, ihn nach Barcelona zu bringen und schlägt ihm vielmehr vor, sich in einem Koffer zu verstecken. „Ich versuchte es sogleich, aber der Kasten war so klein, dass meine Beine ganz außen blieben und der Deckel nicht geschlossen werden konnte.“ Also entschließt sich Arago, Zuflucht in der Burg Bellver zu suchen, die damals als Gefängnis genutzt wurde. Mit Müh‘ und Not entkommt er dem wütenden Mob. „Ich hatte nur einen kleinen Dolchstich in den Schenkel davongetragen“, schreibt er. „Man hat häufig gesehen, dass Gefangene im vollen Laufe ihr Gefängnis verließen; ich bin vielleicht der erste, dem das Entgegengesetzte vergönnt war.“

Nach etwa vier Wochen freiwilliger Haft verlässt Arago in einer Nacht- und Nebelaktion die Burg und lässt sich von einem Fischerboot nach Algier bringen. Seine Messungen auf der Mola de s’Esclop führen tatsächlich dazu, dass die Länge des Meters korrigiert werden muss: um genau zwei tausendstel Millimeter. Heute hat das allerdings keine Bedeutung mehr. Um die präzise Reproduzierbarkeit des Meters zu erleichtern, hat sich dessen Definition im Laufe der Jahre nämlich mehrfach verändert. Heute lautet sie folgendermaßen: Ein Meter ist gleich der Strecke, die Licht im Vakuum innerhalb des Bruchteils von 1/299.792.458 einer Sekunde zurücklegt.

Erschienen im Mallorca Magazin.